„Alex!“, ruft meine Mutter. Ich ignoriere sie. Wieso sollte ich ihr auch antworten? Sie hat ja auch nichts auf meine Frage geantwortet. Wo Dad ist. Seit einer Woche habe ich ihn nicht mehr gesehen. Soweit ich weiß, ist er auf keiner Veranstaltung. Aber unterrichtet hat er auch nicht. Jedenfalls sagt Angelina das. Und ich glaube ihr.
Mom hat einfach geschwiegen, als ich sie darauf angesprochen habe. Nichts gesagt. Mann, das ist unfair! Ich habe doch ein Recht darauf, zu erfahren, wo nein Vater ist! Angelina versteht mich nicht. Sie sagt, dass, wenn ihm wirklich etwas zugestoßen wäre, würde meine Mutter mir das sagen. Aber das glaube ich ihr nicht. Mom wird immer deprimierter, seit Dad weg ist. Ständig schaut sie aus dem Fenster, als ob sie auf etwas warten würde. Und sie verschwindet immer öfter mit dem Handy im Schlafzimmer. Ich habe einmal versucht zu lauschen, aber es hat nicht geklappt. Wahrscheinlich hat sie Schalldämpfer oder etwas in der Art eingebaut. Danach habe ich aufgegeben.
„Alex!“ Die Stimme meiner Mutter durchbricht meinen Gedankengang.
„Alex! Komm runter, es gibt Essen!“ Ich verdrehe die Augen. Wieso müssen wir eigentlich immer zusammen essen?
„Komm jetzt, Timo hat schon gedeckt. Sei froh, dass er es gemacht hat. Eigentlich wärst du heute dran!“ Ich stöhne auf und gehe runter. Eltern! Auf halbem Weg halte ich inne. Seit wann macht Timo so etwas denn freiwillig? Solchen Weiberkram? Verwundert runzele ich die Stirn und gehe weiter. Als ich die Küchentür öffne, trifft es mich wie ein Schlag. Die Küche ist verwüstet. Ein toter Körper liegt neben den Kühlschrank. Mom. Über ihr liegt Timo. Tot. Blut ist wie Ketchup auf den schnitzeln verteilt. Auf den Möbeln sind Blutspritzer. Und in der Mitte vom Chaos steht Angelina in einer riesigen Blutlache, ein Messer in der Hand. Sie lacht.
Sie ist verrückt, schießt es mir durch den Kopf. Meine Angelina. Vollkommen verrückt. Sie kommt auf mich zu, lächelt. Küsst mich auf den Mund. Ich bekomme Gänsehaut und Herzklopfen. Wie immer, wenn wir uns treffen. Nur normalerweise ohne Messer und Leichen. Sie sieht gefährlich aus mit dem riesigen Messer und den inzwischen blutroten Chucks. Sie beugt sich vor und flüstert etwas in mein Ohr. Es ist nicht mehr als ein Hauchen, aber für mich ist es so laut, als ob sie es geschrien hätte.
„Ich habe sie alle getötet“, flüstert sie. „Deine Eltern, Timo. Wie findest du das?“ Sie lächelt schon wieder, während sie auf meine Antwort wartet. Dieses Lächeln macht mich echt schwach. Und das weiß sie. In mir schreit alles nach Rache, aber ich weiß, dass ich keine Chance habe. Sie ist stärker als ich. Auch ohne Messer. Und ich kann sie sowieso nicht töten. Das bringe ich nicht über mich. Hinter ihr ertönt ein Geräusch. Timo. Er ist anscheinend doch noch nicht ganz tot.
„Melly“, sagt er mit brüchiger Stimme. „Melly, räche meinen Tod.“ Angelina stürzt sich auf ihn und stößt ihm das Messer in den Bauch. Er hört auf, sich zu regen. Sie zieht das Messer aus der Wunde und wischt es an einem Tuch ordentlich sauber. Dann kommt sie zufrieden auf mich zu, legt mir das Messer an die Rippen. Sie muss nur noch zustoßen.
„Wieso?“, frage ich sie. „Wieso hast du sie getötet?“ Sie hebt verwundert ihre Augenbrauen.
„Du weißt es nicht? Wirklich?“ Sie lacht. Ich glaube, sie bräuchte wirklich einen Psychiater. Meine Angelina. Ein Psycho-Killer.
Sie sagt: „Ihr wisst, das ich deinen Dad getötet habe. Deshalb muss ich euch töten.“ Dann stößt sie zu. Nicht stark genug, um mich gleich zu töten. Aber in ein paar Minuten bin ich tot. Ich kann jetzt schon nicht mehr richtig stehen, falle hin. Sie fängt mich rechtzeitig auf, legt mich auf einen sauberen Teil in der Küche, beugt sich über mich, küsst mich. Ich sehe ihre Augen, ihre unvorstellbar grünen Augen, in denen man ihre ganzen Gefühle lesen kann. Jetzt sind sie mit Tränen gefüllt. Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, was das bedeutet. Sie will mich nicht töten! Sie hat das nur getan, weil sie es musste. Ich lächele ihr schwach zu. Sie bricht bin Tränen aus und küsst mich ein letztes Mal. Dann sterbe ich. Aus dem Augenwinkel erkenne ich aber noch, wie sie eine Pistole herausholt, auf sich zielt und abdrückt. Der Schuss ist das Letzte, was ich höre.